Das VG Stuttgart hat in einem Eilverfahren festgestellt, dass das Land Baden-Württemberg die Umsetzung der Entscheidung des VGH Baden-Württemberg verhindert und damit eine obergerichtliche Entscheidung missachtet.
Grundlegend:
"Die zu den Akten gereichten Unterlagen machen deutlich, dass der Antragsgegner eine rasche Beseitigung der vom Verwaltungsgerichtshof für rechtswidrig erklärten Zustände nicht anstrebt und aktuell bis auf die Planung eines neuen Gesetzes keine Maßnahmen vorsieht, um praktische Veränderungen anzustreben. Es soll bis zur Verabschiedung des neuen Gesetzes und der damit verbundenen Neuplanungen erstmal wie bisher verfahren werden."
"Für eine besondere Dringlichkeit spricht auch die Tatsache, dass der durch die jedenfalls mangelhafte Umsetzung des Urteils entstehende Eindruck des Widersetzens des Antragsgegners schnellstmöglich zu beseitigen ist, Eine Perpetuierung der schon im Verfahren der Normenkontrolle festgestellten möglichen Verletzung der Antragsteller in ihren Rechten jedenfalls aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG liegt somit nahe."
"In seinem Urteil rügt der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg insbesondere, dass die gesetzliche Hilfsfrist von möglichst 10 Minuten nach dem Rettungsdienstplan als maßgebliche Planungsgröße überhaupt keine Rolle spielt. Der Zielerreichungsgrad sei in der Vergangenheit regelmäßig nur bezogen auf die gesetzliche Höchstfrist von 15 Minuten erhoben worden. Es könnten daher „aktuell keine belastbaren Aussagen dazu getroffen werden […], inwieweit die 10-Minuten-Frist in der Notfallrettung in der Praxis eingehalten wird“. Daraus geht ohne Zweifel hervor, dass die bisherige statistische Erhebung der hilfsfristrelevanten Rettungseinsätze ungeeignet ist, um eine Planung zu gestalten, die die Einhaltung der 10-Minuten-Frist umsetzen kann. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung ebenfalls deutlich herausgearbeitet, welche Einsätze in der statistischen Auswertung zur Zielerreichung der Einhaltung der Hilfsfrist zu berücksichtigen sind, dass heißt statistisch zu erheben sind. Auf eine Berechnung der Hilfsfrist unter Berücksichtigung dieser Grundsätze haben die Antragsteller mithin einen Anspruch."
Folgen:
Das Land Baden-Württemberg muss umgehend die Entscheidung des VGH Mannheim umsetzen und dafür sorgen, dass die Planungen im Rettungsdienst dem geltenden Recht angepasst werden.
Die Hilfsfristen sind folgerichtig anhand der vom Verwaltungsgerichtshof vorgegebenen Parameter zu bestimmen:
- Alle Einsätze der Notfallrettung sind bei der Hilfsfristberechnung zur berücksichtigen. Eine Beschränkung auf das ersteintreffende Rettungsmittel und auf solche Einsätze, die mit Sonder- und Wegerechten (Blaulichteinsätze) gefahren werden, scheidet aus. Dies ist insofern folgerichtig, weil in Baden-Württemberg - anders als in allen anderen Bundesländern - der Krankentransport, der bei niederschwelligen Notfällen zum Einsatz kommt, keiner Vorhaltungsplanung unterliegt. Somit muss zwangsläufig für solche Notfälle ein Rettungswagen vorgehalten werden.
- Auch für Patienten mit besonderen Anforderungen an den Rettungsdienst (Neugeborene, Säuglinge oder Adipöse) muss ein funktionierendes Rettungsdienstsystem aufgebaut werden. Die Einsätze der erforderlichen Rettungsfahrzeuge fallen ebenfalls in die Hilfsfristberechnung.
- Sollten die vom Innenministerium selbst vorgegebenen Zielwerte von 75% in 10 Minuten bzw. 95% in 15 Minuten (weit) verfehlt werden, wovon auszugehen ist, würde keine bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit Leistungen des Rettungsdienstes mehr vorliegen. Damit würde ein Fall des § 2 Abs. 4 RDG vorliegen (" Soweit die bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit leistungsfähigen Einrichtungen des Rettungsdienstes nicht nach Absatz 1 sichergestellt ist, ist die Versorgung Pflichtaufgabe der Landkreise und Stadtkreise.“). Das Innenministerium müsste gem. § 2 Abs. 5 RDG nach Anhörung der kommunalen Landesverbände feststellen, welche Landkreise und Stadtkreise, in denen die Durchführung des Rettungsdienstes nach Absatz 1 nicht sichergestellt ist, diese Aufgabe nach Absatz 2 wahrnehmen. Soweit durch die Übertragung der Aufgabe eine Ausgleichspflicht des Landes nach Artikel 71 Abs. 3 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg begründet wird, schließt das Land eine Vereinbarung mit den Landkreisen und Stadtkreisen über einen angemessenen Ausgleich.“
Grundlegend:
- Der Staat hat aus Art. 2 Abs. 2 GG (Schutz von Leben und Gesundheit), Art. 1 Abs. 1 (Menschenwürde) i.V.m. Art. 20 Abs. 3 (Sozialstaatsprinzip) GG die Schutzpflicht seinen Bürgern ein funktionierendes Rettungsdienstsystem, das den notfallmedizinischen Mindestanforderungen genügt, bereitzustellen.
IIn Bezug auf Baden-Württemberg:
Folgen:
Die Verantwortlichen im baden-württembergischen Rettungsdienst müssen sofort Maßnahmen einleiten, um einen gesetzmäßigen Zustand herzustellen. Denn alle Beanstandungen des VGH beruhen darauf, dass die schon seit Jahren geltenden Regelungen des Rettungsdienstgesetzes missachtet werden. Ein Zuwarten bis zu einer Gesetzesänderung - die aus verfassungsrechtlichen Gründen wohl kaum hinter der jetzigen Regelung zurückbleiben darf - wäre nicht mit den Grundrechten der baden-württembergsichen Bürger vereinbar.
Einordnung des Urteils des
Verwaltungsgerichtshof Mannheim v. 05.05.2023 –
6 S 2249/22
Prof. Dr. Andreas Pitz
"Hier geht es allerdings nicht um eine mögliche künftige Betroffenheit als Notfallpatient, sondern um eine gegenwärtige Betroffenheit als potenzieller Notfallpatient, weil nicht ein - nicht existierender - Anspruch, im Notfall innerhalb einer bestimmten Frist gerettet zu werden, in Rede steht, sondern das Recht darauf, dass unter Beachtung der sich aus der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs, 2 Satz 1GG ergebenden Mindestanforderungen ein funktionierendes System des - Rettungsdienstes vorgehalten wird. [...] Aus dem von den Antragstellern ergänzend ebenfalls angeführten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art, 1.Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG folgen keine Rechte, die im vorliegenden Zusammenhang weiter gingen als diejenigen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG."
Der VGH stellt in seiner Entscheidung klar, dass die Vorhaltung eines funktionierenden Rettungsdienstsystems eine Schutzpflicht des Staates, die sich unmittelbar aus den Grundrechten herleitet, darstellt. Dies bedeutet, dass die gesamte Rettungsdienstplanung aus Sicht der Patienten und deren (Grund)Rechte zu erfolgen hat. Es kommt mithin entscheidend auf die Frage an, welche notfallmedizinische Versorgung innerhalb welcher Zeit der Patient bei dem bei ihm vorliegenden notfallmedizinischen Meldebild benötigt.
Dies erfordert von den Integrierten Leitstellen detaillierte Abfragen, um die medizinische Dringlichkeit und die Art der erforderlichen notfallmedizinischen Versorgung richtig einschätzen zu können.
Die Rettungsdienstplanung und Rettungsdienstvorhaltung hat sodann die Aufgabe der staatlichen Schutzpflicht durch Vorhaltung entsprechend ausdifferenzierter notfallmedizinischer Handlungsoptionen (Ersthelferalarmierung mittels App, First Responder, Rettungswagen, Notärzte etc.) den Integrierten Leitstellen hinreichende Antwortmöglichkeiten auf die jeweiligen Hilfeersuchen zu liefern.
Die häufig zu hörende Berufung darauf, dass Rettungsdienst Gefahrenabwehr sei, dürfte im Hinblick auf die Entscheidung des VGH jedenfalls in ihrer Pauschalität nicht mehr haltbar sein.
"Die verbindliche Einführung einer Vorabdelegation bleibt einer gesetzlichen Regelung im Rettungsdienstgesetz vorbehalten. […] Zwar dürfte die Einführung der Vorabdelegation aufgrund ihrer Bedeutung für die Berufsausübung der Notfallsanitäter einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, wie sie etwa der bayerische Landesgesetzgeber mit Art. 12 Abs, 1 Satz 2 Nr. 6 BayRDG geschaffen hat.“
Der VGH stellt klar, dass wegen des in Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalts („Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.“) viel dafür spricht, dass die aktuell in Baden-Württemberg schon angewendete Vorabdelegation einer gesetzlichen Grundlage Bedarf. Mit der Frage, welche Auswirkung das derzeitige Fehlen dieser gesetzlichen Grundlage für Notfallsanitäter hat, die sich auf das baden-württembergische Vorabdelegationsmodell berufen, musste sich der VGH nicht befassen. Rechtssicherheit für die Notfallsanitäter wurde indes durch die außergesetzliche Regelung der Vorabdelegation nicht geschaffen.
„Die Bestimmungen zur Hilfsfrist in § 6 RDPI. sind jedoch materiell rechtswidrig, weil sie jedenfalls insoweit nicht mit den gesetzlichen Vorgaben in § 3 Abs. 2 Satz 5 und 6 RDG vereinbar sind, als die gesetzliche Frist von möglichst nicht mehr als 10 Minuten vollständig außer Acht gelassen wird […]
Dies bleibt insoweit hinter den gesetzlichen Vorgaben zurück, als die gesetzliche Frist von „möglichst 10 Minuten“ nach dem Rettungsdienstplan, der nach § 3 Abs. 3 RDG-wiederum die Grundlage für die Planung eines bedarfsgerechten und leistungsfähigen Rettungsdienstes auf der Ebene der Rettungsdienstbereiche bildet, überhaupt keine Rolle als Planungsgröße spielt. […]
„Denn der Gestaltungsspielraum ist jedenfalls dann überschritten, wenn die vom Gesetzgeber unter Hinweis auf notfallmedizinische Gründe vorgegebene 10-Minuten-Frist als solche vollständig außer Acht gelassen wird. Dies aber ist gegenwärtig sowohl auf der Ebene der landesweiten Planung als auch auf der Ebene der nach den Vorgaben des Rettungsdienstplans ausgerichteten Bereichsplanung der Fall. Entsprechende Defizite bestehen ferner — ohne dass es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit darauf ankäme — bei der statistischen Auswertung der Zielerreichung. Der Zielerreichungsgrad ist in der Vergangenheit regelmäßig nur bezogen auf die gesetzliche Höchstfrist von 15 Minuten erhoben worden (vgl. Anlage AG 20), so dass aktuell keine belastbaren Aussagen dazu getroffen werden können, inwieweit die 10-Minuten-Frist in der Notfallrettung in der Praxis eingehalten wird.“
„Schon nach seiner Überschrift trifft § 6 RDPI. Regelungen nur zur Hilfsfrist des ersteintreffenden Rettungsmittels, regelmäßig des Rettungswagens (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 3 RDPI.), wobei auch ein Notarzteinsatzfahrzeug oder ein Rettungsmittel der Luftrettung die Hilfsfrist „markieren“ kann, wenn es den Notfallort vor dem Rettungswagen erreicht (§ 6 Abs. 1 Satz 4 und 5 RDPI.). Der Notarzteinsatzdienst ist nach § 6 Abs. 3 Alt. 1 RDPI. ausdrücklich nicht an die Hilfsfrist gebunden. Dies verstößt gegen § 3 Abs. 2 Satz 5 RDG, der die Hilfsfrist für den bodengebundenen Rettungsdienst bei der Notfallrettung normiert, ohne ihn auf das ersteintreffende Hilfsmittel zu beschränken. Soweit im bodengebundenen Rettungsdienst bei der. Notfallrettung zusätzlich zum Rettungswagen. (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 1, § 9 Abs. 1 Satz 2 RDG) ein Notarzteinsatz indiziert ist und die Integrierte Leitstelle dementsprechend. ein Notarzteinsatzfahrzeug (vgl. & 8 Abs. 1 Satz 3, 8 9 Abs. 1 Satz 3 RDG) disponiert und einen Notarzt alarmiert (vgl. § 35 Abs. 2, § 37 Abs. 1 RDPI.), gilt die Hilfsfrist daher auch für den Notarzteinsatz (so auch LT-Drucks. 14/4840, S. 1 und 8 zum Änderungsgesetz 2009; LT-Drucks. 16/1991, S, 7). […]
§ 6 Abs. 1 Satz 3 RDPI., der festlegt, dass die Hilfsfrist bei Einsätzen in der Notfallrettung gilt, in denen akut höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden, ist mit diesen Vorgaben nur dann vereinbar, wenn man ihn dahin auslegt, dass die Hilfsfrist im bodengebundenen Rettungsdienst bei der Notfallrettung uneingeschränkt gilt. […] Näherliegend, ist daher die Annahme, dass der Nebensatz darauf zielt, die Gesamtheit der hilfsfristrelevanten Einsätze zu beschränken, und dass entgegen § 3 Abs. 2 Satz 5 RDG nicht alle Einsätze in der Notfallrettung als hilfsfristrelevant gelten sollen, sondern nur solche, in denen tatsächlich Sonderrechte nach den § 35 Abs. 5a, § 38 Abs. 1 StVO in Anspruch genommen werden. Für diese Annahme spricht auch die in § 37Abs. 1 Satz 2 RDPI. Getroffene Regelung, wonach nur für solche Einsatzfälle in der Notfallrettung, die an die Inanspruchnahme von Sonderrechten durch blaues Blinklicht und Einsatzhorn gekoppelt sind und damit für Einsatzfälle, in denen nach $ 35 Abs. 5a StVO höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden, das den Notfallort am schnellsten erreichende Rettungsmittel zu disponieren ist. Zwar dürften bei einem Einsatz in der Notfallrettung, anders als beim qualifizierten Krankentransport, regelmäßig die Voraussetzungen der § 35 Abs. 5a, § 38 Abs. 1 StVO vorliegen (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 01.11.2002 - 12 ME- 636/02 -, juris Rn. 6; Rogler, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. 2022, § 35 StVO Rn. 9 f m.w.N.). Dies bedeutet aber nicht, dass diese Sonderrechte auch tatsächlich in jedem Einzelfall in Anspruch genommen werden. Die statistische Auswertung der SQR-BW (Qualitätsbericht 2021, S. 17, Tabelle 3) zeigt vielmehr, dass im Berichtsjahr von 1.035.347 angeforderten Rettungswagen nur 640.592 mit Sondersignal unterwegs waren.“
„Die derzeitige Berechnung der Hilfsfrist ab dem Einsatzannahmeende (§ 6 Abs. 1 Satz 2 RDPI.) stellt eine zulässige Konkretisierung des § 3 Abs. 2 Satz 5 RDG dar, wenn das Einsatzannahmeende als der Zeitpunkt definiert wird, zu dem ein Rettungsmittel disponiert werden kann. […] Problematisch ist allerdings, dass der Begriff des Einsatzannahmeendes nicht im Rettungsdienstplan definiert wird, sondern sich aus einem vom LARD festgelegten Berechnungsschema für die Hilfsfrist ergibt, auf welches in 8 6 Abs. 1 Satz 1 RDPI. verwiesen wird. Derzeit erfolgt die Berechnung der Hilfsfrist nach einem vom LARD im Jahr 2016 beschlossenen Berechnungsschema, nach welchem das Einsatzannahmeende im aufgezeigten Sinne definiert wird. § 6 Abs. 1 Satz 1 RDPI. enthält jedoch, wie sich auch aus der von den Antragstellern vorgelegten Datensatzdefinition für Leitstellendaten (Anlage AS 4) ergibt, eine dynamische Verweisung auf den jeweils gültigen Beschluss des LARD zur Hilfsfristermittlung, so dass im Rettungsdienstplan selbst nicht sichergestellt ist, dass der Hilfsfristbeginn dauerhaft gesetzeskonform definiert wird. Sollte etwa der LARD ein neues Berechnungsschema beschließen und den Begriff des Einsatzannahmeendes bei telefonischem Eingang des Notrufs als den Zeitpunkt der Gesprächsbeendigung definieren,. stünde dies mit den gesetzlichen Vorgaben in § 3 Abs. 2 Satz 5 RDG nicht mehr im Einklang.“
„Nicht zu beanstanden ist hingegen, dass Sekundäreinsätze und Intensivtransporte nach § 6 Abs. 3 RDPI. nicht an die Hilfsfrist nach 8.3 Abs, 2 Satz 5 RDG gebunden sind, da diese sich nur auf die Zeit bis zum Eintreffen der ersten Hilfe am Notfallort bezieht. Sekundäreinsätze betreffen jedoch nach § 2 Nr.10 RDPI. Patienten die bereits ärztlich versorgt sind, und die zur weiterführenden medizinischen Versorgung in eine andere Versorgungseinrichtung verlegt werden müssen. […] Kein Sekundäreinsatz liegt freilich in dem in der mündlichen Verhandlung angesprochenen Fall vor, dass sich in einem Krankenhaus ein Notfall ereignet und der Notfallpatient, ohne dort versorgt werden zu können, mit einem Rettungswagen zur Erstversorgung in ein anderes Krankenhaus transportiert werden muss. In diesem Fall liegt ein Primäreinsatz im Sinne des § 2 Nr. 9 RDPI. vor.“
„Nicht zu beanstanden ist schließlich, dass § 6 RDPI. keine gesonderten Bestimmungen für Notfallpatienten mit besonderen Anforderungen enthält. Die gesetzliche Hilfsfrist gilt uneingeschränkt auch für diese. Ein Regelungsdefizit liegt insoweit nicht vor. Das Vorhalten entsprechender Einsatzmittel wie eines Adipositas-Rettungswagens ist Aufgabe der Planung auf Bereichsebene (vgl. § 12 Abs. 1 Satz 4, § 30 Abs. 3 Nr. 3 RDPI.).“
Der VGH stellt klar, dass die seit Jahren von der rettungsdienstlichen Selbstverwaltung im gesamten Bundesland Baden-Württemberg vorgenommene Bedarfsplanung gegen das Gesetz verstoßen hat und damit die Grundrechte der baden-württembergischen Bürger aus Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Der VGH stellt deutlich heraus, dass auch das „Verschweigen“ der Zielerreichungsgrade für die Hilfsfrist durch die Verantwortlichen gesetzeswidrig war und ist. Durch die Unwirksamkeitserklärung der dem Gesetz entgegenstehenden Regelung im Rettungsdienstplan gilt, wie eigentlich schon seit vielen Jahren, dass das Innenministerium und die rettungsdienstliche Selbstverwaltung sofort Maßnahmen in die Wege leiten müssen, um das Rettungsdienstgesetz gesetzeskonform umzusetzen. Soweit die Rechtsaufsichtsbehörden in Baden-Württemberg (Ausnahme: Stadt Mannheim) Bereichspläne der Selbstverwaltung genehmigt haben, denen eine Planung mit einer Hilfsfrist von nur 15 Minuten zugrunde gelegt wurden, müssen diese umgehend gem. § 48 LVwVfG zurückgenommen werden, da sie offensichtlich rechtswidrig waren. Ein Ermessen steht den Aufsichtsbehörden aufgrund der vom VGH herausgestellten Grundrechtsrelevanz der Hilfsfrist nicht zu („Ermessensreduktion auf Null“). Die Aufsichtsbehörden wären jedoch auch wegen drohender Amtshaftungsansprüche von Notfallpatienten, die mangels funktionierendem Rettungsdienstsystem Schäden erleiden, nicht gut beraten, diese Entscheidung weiter hinauszuzögern.
Durch die rechtswidrige Beschränkung der Rettungsdienstplanung auf Einsätze, die mit Blaulicht und Martinshorn angefahren werden, wird die planungsrelevante Grundgesamtheit aller Rettungsmitteleinsätze drastisch reduziert. Bei der Planung bleiben aktuell damit knapp 40% der Einsätze der Notfallrettung unberücksichtigt (knapp 400.000 Einsätze in Baden-Württemberg). Dies geschieht zugleich in dem Wissen, dass die Rettungsfahrzeuge diese Einsätze tatsächlich fahren, sodass sie nicht für andere Einsätze zur Verfügung stehen. Hierdurch findet eine rechtswidrige Verknappung der vorgehaltenen Rettungsmittel statt.
Die Beschränkung der Hilfsfrist auf das ersteintreffende Rettungsmittel blendet zudem sämtliche Einsätze aus, bei denen mehr als ein Patient zu versrogen ist. Hierzu zählt der Verkehrsunfall mit 4 Verletzten ebenso wie der Massenanfall von Verletzten, z.B. nach einem Busunfall, einem Chemieunfall oder einer Explosion. In Baden-Württemberg wurde basierend auf dieser rechtswidrigen Planungsvorgabe die rettungsdienstliche Selbstverwaltung von der Planung solcher Einsätze entbunden. Dies hat das Innenministerium sogar in seinem ManV-Konzept (Az. 6-1441/73) geregelt, in dem es auf S. 12 die „Leistungen des Rettungsdienstes“ bei einem Massenanfall von Verletzten mit „Mobilisierung der Regelvorhaltung“ reduziert. Der VGH hat indes klargestellt, dass jeder Patient am Notfallort aus seinem individuellen Grundrecht einen Anspruch auf Hilfe durch ein funktionierendes Rettungsdienstsystem innerhalb der maßgeblichen Planungsgrundlagen (Hilfsfrist) hat und zwar unabhängig davon, ob er der erste oder siebte Patient ist. Die Beschränkung auf eine „Regelvorhaltung“ (nur ein Patient am Notfallort) ist mit der Schutzpflicht des Staates nicht vereinbar. Damit ist noch nichts darüber ausgesagt, wer die Vorhaltung für solche Einsatzlagen zu finanzieren hat (Steuerzahler oder Krankenkassen).
Der VGH stellt klar, dass nicht jeder Transport, der in einer Klinik stattfindet, ein für die Hilfsfrist nicht relevanter Sekundärtransport ist. Hiermit hat er der bisherigen Praxis in Baden-Württemberg, wonach ausnahmslos jeder Einsatz in einem Krankenhaus (auch der Bauarbeiter, der von der Fassade eines Krankenhauses abstürzt) als nicht hilfsfristrelevant aus der Planung herausgenommen wird, eine Absage erteilt. Vielmehr ist immer dann, wenn ein Patient im abgebenden Krankenhaus nicht adäquat versorgt werden kann und zur Versorgung dringlich in ein anderes Krankenhaus verbracht werden muss, um Lebensgefahr oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden, von einem Einsatz der Notfallrettung auszugehen, der hilfsfristrelevant und damit in den Planungen zu berücksichtigen ist.
Aktuell gibt es in Baden-Württemberg nur eine Vorhaltungsplanung für adipöse Notfallpatienten, die besondere Anforderungen an den Transport haben. Diese Vorhaltung wird jedoch nicht als hilfsfristrelevant angesehen. Für andere Gruppen von Notfallpatienten, insbes. Neugeborene und Säuglinge, hält die rettungsdienstliche Selbstverwaltung in Baden-Württemberg weder speziellen Rettungswagen vor, noch hat man spezielle Baby-Notärzte implementiert. Dort wo es solche Rettungsmittel gibt, sind sie nicht Bestandteil der rettungsdienstlichen Vorhaltung und werden z.B. durch Spenden finanziert. Der VGH hat in seiner Grundrechtsdogmatik konsequent klargestellt, dass es keiner eigenständigen Planungsgrundlage für besondere Notfallpatienten Bedarf, da sich unmittelbar aus dem Rettungsdienstgesetz und den Grundrechten dieser Patienten ein Anspruch auf Vorhaltung eines auch für sie funktionierenden Rettungsdienstsystems gibt. Sie sind also keine Grundrechtsträger zweiter Klasse. Dies bedeutet für die rettungsdienstliche Vorhaltung in Baden-Württemberg, dass aktuell die Grundrechte von besonderen Notfallpatienten dadurch verletzt werden, dass die Rettungswagen für adipöse Patienten überhaupt keine Hilfsfrist einhalten müssen und für alle übrigen besonderen Notfallpatienten, wie z.B. Neugeborene und Babys überhaupt kein funktionierendes Rettungsdienstsystem existiert. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass dies auch gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 GG („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“) verstößt, das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG indes weiter geht. Mithin sind umgehend Maßnahmen zu ergreifen, um auch besondere Notfallpatienten adäquat versorgen zu können.
In Anbetracht der Tatsache, dass viele Rettungsdienstgesetze der Länder nicht auf dem Gedanken beruhen, dass aus der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG die Aufgabe resultiert, eine funktionierendes Rettungsdienstsystem vorzuhalten, werden alle Bundesländer die Ausgestaltung ihres Rettungsdienstsystem kritisch zu hinterfragen haben. Denn wenn es um die grundrechtliche Schutzpflicht geht, müssen sich die maßgeblichen Planungsgrundlagen an der notfallmedizinischen Notwendigkeit messen lassen. Auch der Umstand, dass in vielen Bundesländern unterschiedliche Hilfsfristen als Planungsgrundlagen bestehen, dürfte vor dem Hintergrund, dass die notfallmedizinischen Grundlagen und die Grundrechte der Bürger überall gleich sind, kaum haltbar sein. Insbesondere stellt sich dann die Frage, ob eine Berufung auf eine Gesetzgebungszuständigkeit der Länder wegen des Charakters des Rettungsdienstes als „Gefahrenabwehr“ so pauschal noch aufrecht erhalten werden kann.
Soweit einzelne Rettungsdienstgesetze der Länder hinsichtlich der Planungsgrundlagen einen ähnlichen Wortlaut wie in Baden-Württemberg aufweisen (z.B. Hessen) und untergesetzliche Regelungen Einschränkungen dieser Planungsgrundlage vornehmen, werden sie kritisch prüfen müssen, ob dies in einem zulässigen Rahmen geschehen ist.